«Seine Ästhetik traf den Geschmack der Zeit»

Vor 100 Jahren verstarb in der Breitenau in Schaffhausen der unter Schizophrenie leidende Fotograf und Künstler Adolph Schudel aus Beggingen an einer «Ruptur des Herzens». Drei seiner Werke fanden Eingang in die weltberühmte Sammlung Prinzhorn.

Adolph Schudel nahm sein Werk ernst. Es ist Nummeriert, zeichnerisch gerahmt und präzise mit dem Werktitel und dem Namen des Urhebers versehen.

BEGGINGEN. Psychisch erkrankte Menschen zeichnen sich oft durch eine besondere Sensibilität aus. Kommen künstlerischer Wille und handwerkliches Talent hinzu, können Werke von nachhaltigem Wert entstehen. Niemand wird bestreiten, dass Robert Walser zu den bedeutendsten Schweizer Schriftstellern gehört. Und wer sich ernsthaft mit dem Schweizer Kunstschaffen des 20. Jahrhunderts befasst, kommt an Adolf Wölfli nicht vorbei.

Ist es statthaft, einen Adolph Schudel, den kaum jemand kennt, im gleichen Atemzug zu nennen? Man darf es nicht, vielleicht aber nur, weil lediglich ein gutes Dutzend Zeichnungen von Adolph Schudel erhalten geblieben sind, obwohl er zeitweise ausgesprochen produktiv gewesen sein muss. Und es sind bislang auch keine Dokumente gefunden worden, Briefe etwa, die einem die Denkwelt Schudels erschliessen würden. Jedoch immerhin: Alfred Kubin (1877–1959), einer der bekanntesten Symbolisten und Expressionisten, erwähnte 1922 in der Zeitschrift «Das Kunstblatt» Adolph Schudel, dessen «wunderbar durchgestrichelte Miniaturen in Sepia oder Tusche mit dünnem Haarpinsel (…) im Ausdruck an persische Miniaturen denken» lassen. Und wenn die Nationalsozialisten 1937 Werke von Schudel zusammen mit solchen von Nolde, Chagall oder Kandinsky in die Wanderausstellung über «Entartete Kunst» aufnahmen, so wird die einstige böse Absicht im Nachhinein zu einem Gütesiegel ersten Ranges.

Viele Kinder, eine Kuh
Adolf Schudel, wie er in der Geburtsurkunde heisst, wurde am 23. Februar 1869 in Beggingen geboren – als elftes von insgesamt 19 Kindern des Dorfschullehrers Alexander Schudel. «Alexander Schudel war zunächst mit der zwei Jahre älteren Elisabetha Schudel verheiratet. Nach deren Tod ehelichte er die 13 Jahre jüngere Anna Blum», erklärt der Schleitheimer Ortsarchivar Willi Bächtold. «Die meisten Kinder starben ganz jung, oft im ersten Lebensjahr. Als Adolphs Vater am 25. März 1895 starb, lebten nur noch sieben Kinder.»

Zu dieser Zeit lebte Adolph – nach einem Arbeitsaufenthalt als Fotoretoucheur in Reutlingen – als Fotograf in Paris. Von dort aus erteilte er dem Gemeindekassier Melchior Werner eine testamentarische Vollmacht, weshalb von ihm zwar kein Porträt, aber wenigstens eine handschriftliche Unterschrift existiert. Viel zu verteilen gab es allerdings nicht. Im Wohnhaus waren die Schudels nur zur Miete, dafür hatten sie eine Kuh, um sich mit gesunder Milch versorgen zu können. Wieso Adolph Schudel wenig später in die Schweiz zurückkehrte, ist letztlich unklar. Zwar war mit Alexander der älteste Bruder nach Argentinien ausgewandert, doch mit Johann Georg war der Zweitälteste offenbar in Beggingen geblieben und hätte die Rolle des Familienoberhaupts einnehmen können. Hatte sich Adolph trotzdem um die Mutter und die jüngeren Geschwister kümmern müssen– oder war es vielleicht gerade umgekehrt? Jedenfalls ist verbrieft, dass Adolph Schudel 1897 in einem Basler Hotel einen Suizidversuch unternahm und wenig später in die kantonale «Irrenanstalt» Breitenau eingeliefert werden musste. Nach zwei Jahren wurde er wieder entlassen, doch ist unsicher, ob er danach überhaupt noch arbeitsfähig war. Ein Fotograf Adolph Schudel ist im Kanton Schaffhausen jedenfalls (noch) nicht nachgewiesen.

An Schizophrenie erkrankt
Zehn Jahre später wurde Adolph Schudel von der Polizei wieder in die Breitenau geführt, nachdem er seine 66-jährige Mutter verprügelt hatte. Gemäss einem Artikel in den «Schaffhauser Nachrichten» aus dem Jahr 2009 litt er unter Schizophrenie. Ständig war er müde, fühlte sich krank und in seiner Existenz bedroht, insbesondere fürchtete er sich vor vergiftetem Essen. Er hörte Stimmen, sprach von Schlangen, die ihn ängstigten, sah seinen wieder aufgeweckten Vater und war mitunter gewalttätig. Inwieweit Adolph Schudel imstande war, in der umfangreichen Patientenbibliothek zu lesen oder Entwicklungen ausserhalb der Irrenanstalt wahrzunehmen, muss offenbleiben.

Trost fand er im Zeichnen. Noch kurz vor seinem Tode wird in seine Krankenakte notiert: «Ist ruhig und zufrieden, wenn er nur (…) zeichnen kann.» Am 29. Dezember 1918 erlag er einer «Ruptur des Herzens», einer besonderen Form des Herzinfarkts.

Adolph Schudel erlitt ein Schicksal wie viele andere psychisch Kranke, denen man, in den Anfängen der modernen Psychiatrie, als diese noch nicht weit vorangeschritten war, nicht optimal zu helfen wusste. Künstlerische Betätigung wurde als sinnstiftender Teil der Therapie angesehen. Dass Schudels überdurchschnittliches Talent nicht einfach
vergessen ging, ist Hans Bertschinger, dem zweiten Direktor der Breitenau in den Jahren 1904 bis 1935, zu verdanken. Als nämlich der deutsche Kunsthistoriker und Arzt Hans Prinzhorn in Heidelberg eine Sammlung mit Kunstwerken von Psychiatriepatienten zusammenstellte, schickte ihm Bertschinger drei Zeichnungen von Adolph Schudel. Sie fanden Eingang in das 1922 erschienene Werk «Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung». Prinzhorn schrieb in seinem Dankesbrief, dass sich in seiner Sammlung kaum einer befinde, der «Visionäres so eindrucksvoll zu gestalten versteht, wie Ihr Pat.». Er ordnete die Zeichnungen der «anschaulichen Phantastik» zu und unterstrich das «Vieldeutige, Geheimnisvolle» des Genres und seine Vorliebe für das «Ungewöhnliche, Besondere». Die Vorstellung schiebe sich sozusagen halluzinatorisch vor das Wahrnehmungsbild. Oft wüssten die Befragten nicht, ob sie ein Traumbild gesehen hätten, meinte Prinzhorn und betonte, das Entscheidende sei «gerade der zwiespältige Eindruck dieser verzauberten Welt».

Alles Ferne, Fremde, Ungewöhnliche
Schudels Zeichnungen wurden zwar 2009 in einer Auswahl der Sammlung Prinzhorn im obersteirischen Benediktinerstift Admont gezeigt (SN vom 10. Oktober 2009), doch gebührt die Ehre der Wiederentdeckung des Werks von Adolph Schudel der Zürcher Kunsthistorikerin Katrin Luchsinger. Die Dozentin für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste hat sich im Rahmen zweier Projekte des Schweizerischen Nationalfonds auf Kunstwerke spezialisiert, die zwischen 1870 und 1930 von Patientinnen und Patienten in Psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz geschaffen wurden. Daraus resultierte unter anderem die aufschlussreiche Studie «Alles Ferne, Fremde, Ungewöhnliche – Kunst in der Klinik Breitenau, 1904– 1935» der Jubiläumsschrift «125 Jahre Psychiatrische Klinik Breitenau Schaffhausen».

«Schudel zeichnete, das wird aus der Anordnung der wenigen verbliebenen Blätter deutlich, seit 1907 nach einem Plan und mit Ansprüchen, möglicherweise auch mit Unterbrechungen, aber bis zu seinem Lebensende», weist Katrin Luchsinger auf die Systematik in Schudels Schaffen hin und betont: «Seine in äusserst feinen Tonwerten gestalteten Bilder weisen optisch eine Verwandtschaft mit Schwarz-Weiss-Fotografien auf.» Das Regelwerk – mehrfache Beschriftungen, Hinweise auf Copyright – würden in den Bildern das Potenzial des Fantastischen steigern. Der Zeichner strebe möglicherweise nach Bildern, die als Fotografien seiner Fantasiebilder und Vorstellungen erscheinen würden. Und als Fazit meint sie: «Wenn Adolph Schudel mit seinem Schaffen an die Öffentlichkeit gelangt wäre, hätte er mit einem Publikum rechnen können, das sich vom Fantastischen in seinen Bildern willig hätte entführen lassen. Seine Ästhetik traf den Geschmack der Zeit.»

Vielleicht kann man sogar einen Schritt weitergehen. Hätte ein «normaler» Künstler 1908 die eigenwillige «Europäische Friedenskarte» veröffentlicht, so würde man darin eventuell eine Mahnung vor dem sich abzeichnenden grossen Krieg erkennen, als Sehnsucht nach einem Europa ohne Grenzen, in welchem allenfalls die neutrale Schweiz eine spezielle Vermittlerrolle zu spielen hat. Damals wurden jedenfalls Nobelpreise an Bertha von Suttner und verschiedene Organisationen vergeben, die sich für den Frieden in Europa und internationale Schiedsgerichte einsetzten.

Ein Beispiel von mehreren
Das grosse Verdienst von Katrin Luchsinger ist im Übrigen, dass sie nicht Adolph Schudels Werk isoliert betrachtet, sondern es in einen grösseren Zusammenhang, sowohl in Schaffhausen als auch in der Schweiz, stellt. So sind in der Ausstellung «Extraordinaire» beispielsweise auch Werke von Carl Fehrlin, Bernhard B., Heinrich L. und Mathilde R. zu sehen. Dass die zum Teil ganz vorzüglichen Arbeiten – wegen eines rigorosen Datenschutzes – nicht den konkreten Künstlerpersönlichkeiten zugeordnet werden dürfen, zeigt gleichzeitig in beklemmender Weise auf, dass wir auf dem Weg zur viel genannten Entstigmatisierung psychisch Kranker noch fast am Anfang stehen.

Literaturhinweise: Katrin Luchsinger. Alles Ferne, Fremde, Ungewöhnliche – Kunst in der Klinik Breitenau, 1904–1935, in: Hrsg. Spitäler Schaffhausen/Historischer Verein des Kantons Schaffhausen. 125 Jahre Psychiatrische Klinik Breitenau Schaffhausen. 1891–2016, Schaffhausen 2018; Helen Hirsch, Katrin Luchsinger, Thomas Röske (Hrsg). Extraordinaire! Unbekannte Werke aus psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz um 1900. Zürich (Scheidegger & Spiess, 2018). Diese Publikation ist gleichzeitig Katalog der gleichnamigen Wanderausstellung, die bis zum 20. Januar in Heidelberg sowie vom 9. Februar bisMai 2019 im Kunstmuseum Thun gezeigt wird.

Dieses Bild von Adolph Schudel, entstanden in der Breitenau in Schaffhausen, trägt den Titel «Verlassen».