Die Geschichten von „Stille Nacht“

„Stille Nacht! Heilige Nacht!“ wurde in mehr als 300 Sprachen und Dialekte übersetzt – und ist damit eines der beliebtesten Weihnachtslieder weltweit. Zum ersten Mal gespielt wurde es am 24. Dezember 1818 in der St. Nikola-Kirche in Oberndorf bei Salzburg. Der Text stammt vom Salzburger Pfarrer Joseph Mohr, die Melodie vom oberösterreichischen Lehrer Franz Xaver Gruber. Besondere Auszeichnung: Seit 2011 ist „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ Immaterielles Kulturerbe der UNESCO. Ich selbst befasste mich 1996 im Rahmen der „Weihnachtspost“ der Schaffhauser Nachrichten mit den Geschichten von „Stille Nacht“.

Abgelenkt vom Aushang eines Alternativkinos, gehe ich in Salzburg am Geburtshaus des Priesters Joseph Mohr, Verfasser des «Stille Nacht»-Textes, achtlos vorbei, immer weiter die Steingasse hinunter, enger wird sie und dunkler. Nach einem Kaffee im «Shrimps» entdecke ich die bescheidene Gedenktafel am Haus Nummer 9 doch noch. 1968 erst ist sie angebracht worden, 150 Jahre nachdem «Stille Nacht» im nahen Oberndorf uraufgeführt worden ist.

1968 im Jahr der Jugendunruhen – das macht Sinn, denn Joseph Mohr, der hier am 11. Dezember 1792 das schummrige Kerzenlicht der Welt erblickt, ist das dritte uneheliche Kind der Strickerin Anna Schoiber aus Hallein. Ihr Untermieter Joseph Mohr, ein armer Soldat, anerkennt zwar die Vaterschaft, stiehlt sich aber durch Desertion aus der Verantwortung. Taufpate ist, da niemand Ehrbares zur Verfügung steht, der Henker von Salzburg, Josef Wohlmuth mit Namen. Diese Kindheit prägt. Zeitlebens setzt sich Mohr für die Armen, Rechtlosen und Gefallenen ein und damit sich selbst ständig in die Nesseln. In 20 Jahren ist er in einem Dutzend Gemeinden des Salzburgerlandes als Hilfspriester tätig, notgedrungen, denn ein Pfarrer nach dem andern schiebt den kränkelnden Mohren ab, obwohl der seine Schuldigkeit gar noch nicht zu Ende getan hat. Erst 1839 in Wagrain, damals ein mausarmes Bergdorf, heute ein bekannter Skiort bei Bischofshofen, kommt er zur Ruhe. Er fördert die vernachlässigte Volksschule, stirbt aber bereits am 4. Dezember 1848 an Lungentuberkulose. Die Ursprünge seiner Krankheit sind in den feuchten Räumen an der Steingasse zu suchen.

«Am alten Esstisch, im Ausstellungsraum, führen wir Sie bei einer Tasse Tee durch die interessante Lebensgeschichte Joseph Mohrs», heisst es im bescheidenen Prospekt des vor wenigen Wochen eröffneten «Stille Nacht»-Hauses. Eingerichtet hat es Hanno Schilf, ein aus dem Osten Deutschlands zugezogener Filmemacher. In den nächsten Stunden läuft tatsächlich ein Film ab, mit Schilf als Hauptdarsteller, in dem aber nicht Tee, sondern Rose Regie führt. «Auf den Spuren von ‹Stille Nacht› sind Sie, gut», meint Schilf. «Dann müssen Sie unbedingt nach Mariapfarr fahren. Dort ist das Lied entstanden.» Das ist neu! Bis jetzt gilt Oberndorf als des Liedes Geburtsstätte.

Eigentlich beginnt die Geschichte von „Stille Nacht“ in Mariapfarr, wie man seit 1995 weiss.

Ende 1995 ist die bislang älteste Fassung des berühmten Weihnachtsliedes aufgetaucht, entdeckt auf der Rückseite eines fein säuberlich eingerahmten Hochzeitsliedes, das jahrzehntelang in einer guten alten Salzburger Stube gehangen ist. Hanno Schilfs Augen glänzen. «Das Phantastische daran: Joseph Mohr hat es persönlich niedergeschrieben und auf 1816 rückdatiert! Damals ist er aber gar noch nicht in Oberndorf tätig, sondern in Mariapfarr, wo er, wie ich herausgefunden habe, seinen Grossvater kennengelernt hat.» Schilf hat darüber sein zweites, noch druckfrisches «Stille Nacht»-Buch geschrieben. Es liest sich leicht, wie ich später auf der Bahnfahrt nach Schaffhäusen feststelle, und lässt den sozial engagierten Pfarrer wirklich aufleben. Natürlich singt dieser das Lied in Mariapfarr, in einer Höhle bei der Geburt des unschuldigen Kindes zweier Aussenseiter. Eine rührende, stimmige Weihnachtsgeschichte; aber ob sie stimmt, ist eine andere Frage.

Als Komponist gilt jedenfalls offiziell immer noch Franz Xaver Gruber, und auch auf Mohrs «Urfassung» aus den frühen 1820er Jahren steht klipp und klar: Melodie von Fr: Xav: Gruber. Dazu Schilf: «Mohr ist im Komponieren ausgebildet, er skizziert seinem Freund Gruber das Lied, singt es ihm vor, und dieser arrangiert die Melodie und schreibt sie nieder.» Das hat er schon im ersten «Stille Nacht»-Roman angedeutet, der 1993 in Oberndorf Staub aufwirbelt, weil er dramatisch und stellenweise in der Derbheit jener kriegerischen Zeiten abgefasst ist; er stützt sich aber weitgehend auf Fakten.

Von 1807 bis 1828 wirkt Franz Xaver Gruber als Lehrer, Mesmer und Organist in Arnsdorf.

Indes, die Zeitreise und die Spurensicherung gehen weiter. Eigentlich wäre Hochburg in Oberösterreich, an der Reihe, wo Franz Xaver Gruber, Sohn eines Leinenwebers, am 25. November 1787 geboren wird. Der Ortsprospekt ist vielversprechend, aber die Verbindungen dorthin mit dem öffentlichen Verkehr miserabel. So reise ich ins idyllische Arnsdorf. Hier ist die Zeit wahrlich stehengeblieben, und hier wirkt Gruber von 1807 bis 1828 als Lehrer, Mesmer und Organist. Ottilie Aigner zeigt mir die Schulstube von damals, die heute noch als solche genutzt wird. Immer im Juli und August werden die alten Möbel wieder hineingestellt. Grubers Pult steht dauernd da. Frau Aigner öffnet es, und mir fallen zwei Tonbandkassetten «Arnsdorfer Advent» auf. Auf der ersten Version spricht ihr verstorbener Mann Sepp, 15. Nachfolger Grubers, erklärende Worte. Sie verkauft sich weniger gut als die neue, weil Aigner sich standhaft geweigert hat, «Stille Nacht» aufzunehmen: «Das singt man erst an Weihnachten!» Zwar kaufe ich das richtige Exemplar, ich verstehe jedoch nur wenig. Sicher ist einzig: Sepp Aigner ist der Jakob Brütsch, der Jakob Mändli von Arnsdorf.

In der ehemaligen Lehrerwohnung haben Aigners ein Museum eingerichtet. Eigentlich fehlt nur das Bild der ersten Frau Grubers, Elisabeth Fischinger. Eine Ungerechtigkeit der Geschichte, die die Arnsdorfer mit einer Gedenktafel ausgeglichen haben.

Aber auch diese Geschichte muss erzählt werden: Gruber bewirbt sich mit 19 Jahren um die freigewordene Lehrerstelle in Arnsdorf. Die Lehrerwohnung ist aber von der Witwe seines Vorgängers besetzt. Der Bescheid der Herren des Stifts Michaelbeuren: «Du bekommst die Stelle, wenn Du die Witwe heiratest.» Gruber zögert nicht, obwohl die Fischingerin 13 Jahre älter ist, zwei Kinder hat und von den Klosterherren wenig schmeichelhaft charakterisiert wird: Sie ist «eine bäuerische Person von eingeschränktester Lebensart und nicht geschaffen für ein Mannsbild, das den Umgang mit feinern Weibsleuten gewohnt.» Ein halbes Jahr nach ihrem Tod heiratet Gruber 1826 Maria Breitfuss, eine ehemalige Schülerin, 19 Jahre jünger als er. Sie stirbt 1841 bei der Geburt des zehnten Kindes. Der Komponist ehelicht nun die verwitwete Freundin seiner Frau, Katharina Wimmer. So sieht die Liebe im 19. Jahrhundert aus.

In der sehenswerten Wallfahrtskirche Maria am Mösl befindet sich übrigens die renovierte Gruber-Orgel, und auf Wunsch lässt Ottilie Aigner das 1968 geschaffene «Stille Nacht»-Glockenspiel erklingen. Wunderschön.

Ende des ersten Tages. Kaffee und Salzburger Nockerln mit Sabine Müllauer von der Salzburger Land Tourismus GmbH. Sie erzählt mir die folgende Geschichte: «Auch von Josef Mohr gibt es kein Bild. Weil die Oberndorfer vor der neuen Pfarrkirche eine Bronze-Plastik anbringen wollen, lassen sie kurzerhand Mohrs Schädel aus dem Grab in Wagrain holen, um so seinen Kopf rekonstruieren zu können. Er wird nie zurückgegeben, lagert danach jahrelang auf dem Polizeiposten und wird zuletzt in die neue ‹Stille Nacht›-Kapelle eingemauert.»

In Oberndorf wird „Stille Nacht“ 1818 uraufgeführt.

Die Oberndorfer haben vor drei Jahren ihr Ortsmuseum vergrössert und an den «Stille Nacht»-Platz umplaziert. So können sie den Touristen, die die schlichte Kapelle besuchen, wirklich etwas bieten. «Die alte Kirche St. Nikola wird Anfang jahrhundert abgerissen, als das ganze, immer wieder überschwemmte Dorf flussaufwärts verlegt wird», erklärt Museumsleiter Manfred W. K. Fischer. «Die Oberndorfer bekommen aber ein schlechtes Gewissen. Sie feiern 1924 mit Verspätung den 100. Jahrestag der Uraufführung und legen den Grundstein zur «Stille-Nacht»-Kapelle, die 1937 eingeweiht wird.»

Oberndorf, das bis zum Bau der Eisenbahn sehr gut von der Salzschiffahrt und der Holzflösserei lebt, wird 1816, als das Kurfürstentum Salzburg endgültig zu Österreich kommt, vom bayerischen Laufen getrennt. Für die Pfarrkirche werden Gruber als nebenamtlicher Organist und Mohr als Hilfspfarrer angestellt. An Weihnachten 1818 singen die beiden erstmals das «Stille Nacht»-Lied, Mohr begleitet auf seiner Gitarre. Davon wissen wir dank der «Authentischen Veranlassung», die Gruber am 30. Dezember 1854 in Hallein niederschreibt, um sich gegenüber dem König von Preussen als Komponist auszuweisen und einige Unkorrektheiten in der preussischen Fassung richtigzustellen.

«Es war am 24ten Dezember des Jahres 1818, als der damalige Hülfspriester Herr Josef Mohr bei der neu errichteten Pfarr St. Nicola in Oberndorf dem Organistendienst vertretenden Franz Gruber (damals zugleich auch Schullehrer in Armsdorf) ein Gedicht überreichte, mit dem Ansuchen eine hierauf passende Melodie für 2 Solo-Stimmen sammt Chor und für eine Guitarre-Begleitung schreiben zu wollen. Letztgenannter überbrachte am nämlichen Abend noch diesem Musikkundigen Geistlichen, gemäss Verlangen, so wie selbe in Abschrift dem Original ganz gleich beiliegt, seine einfache Composition, welche sogleich in der Heiligen Nacht mit allen Beifall produzirt wurde.»

Um zu erklären, warum das Lied nicht auf der altersschwachen Orgel begleitet worden ist, erfindet der Volksmund Mäuse, die den Blasebalg zerbissen haben. Jedenfalls nimmt man an, dass die Orgel ihre Dienste versagt hat.

Wie dem auch sei: Die reine «Stille Nacht»-Fassung wird mit der Gitarre begleitet.

In Hallein führt mich Franz Holzner, seit Jahren ein engagierter Gruber-Förderer, durch das neue Franz-Xaver-Gruber-Museum. Es befindet sich nun im ehemaligen Wohnhaus bei der Pfarrkirche, beinhaltet einige Originalmöbel und sogar die Mohr-Gitarre. Hier, in der zweitgrössten Stadt des Landes Salzburg, wirkt Gruber von 1835 bis zu seinem Tode am 6. Juli 1863. Nun kann er sich als Chorregent, Organist und Musiklehrer ganz der Musik widmen, fast jedenfalls, denn ab 1849 ist er auch als Kanzleischreiber tätig. Als weitherum gefeierter Organist nach Hallein geholt, wird ihm plötzlich die öffentliche Anerkennung versagt. Gruber gerät mehr oder weniger in Vergessenheit. Erst die 1971 gegründete «Stille-Nacht»-Gesellschaft, die sich der Erforschung seines Gesamtwerks widmet, und das 1975 entstandene Franz-Xaver-Gruber-Kuratorium, das alljährlich eine Aufführung finanziert, sorgen nach und nach für Abhilfe. Nun weiss man, dass der Komponist 194 Werke schuf; zu 157 von ihnen haben sich Quellen gefunden. Franz Holzner: «Er ist ein sehr guter Provinzmusiker und repräsentiert das andere, noch zu gering geschätzte Salzburg neben der höfischen Musik eines Mozart und Michael Haydn.»

Während das Lied im Salzburgerland zunächst eher unbekannt bleibt, wird es im Zillertal im Tirol, wohin es der bekannte Orgelbauer Karl Mauracher gebracht haben dürfte, ein grosser Erfolg. Durch die beiden singenden Handwerkerfamilien Strasser und Rainer wird es in die Welt hinausgetragen. Die Rainers singen es 1822 auf Schloss Fügen vor Kaiser Franz I. und Zar Alexander I. und 1839 sogar in New York vor der ausgebrannten Trinity Church, die Strassers machen damit in Leipzig Furore. Dort ist man so begeistert, dass es A. R. Friese 1832/33 als «ächtes Tyroler Lied» druckt; Grubers älteste erhaltene Fassung ist übrigens ein Druck von 1830 (Autograph III). Nach und nach wird «Stille Nacht» in fast alle Sprachen übersetzt, auch in Japanisch, Chinesisch und in indianische Idiome; von den sechs Strophen werden in der Regel jedoch nur die beiden ersten und die letzte gesungen. Wann «Stille Nacht» Schaffhausen erreicht hat, muss offen bleiben. Bis heute ist es in keinem reformierten Kirchengesangbuch enthalten.

Bleibt zuletzt die Geschichte der lateinischen Urfassung. Genauso wie die Anfangstakte des Liedes notengleich sind mit dem alten Salzburger Volkslied «Geh i hinaus zu an schen Haus», genauso hält sich das Gerücht einer lateinischen Urfassung «Alma nox, tacita nox». Die Vertonung von Karl Sayler soll jedoch späteren Datums sein. Gelegentlich wird auf einen lateinischen Text, gefunden auf einer Dorfkirchenempore im Bayerischen Wald, verwiesen. Kann sein, kann aber auch nicht sein. «Stille Nacht» hat noch längst nicht all seine Geschichten erzählt.

Nachtrag: Das Stille-Nacht-Museum im Geburtshaus von Joseph Mohr in Salzburg musste 2003 geschlossen werden. Informationen sind weiterhin unter https://stille-nach-museum.org auffindbar.

ie Links zu Stille-Nach-Museen:
https://stillenachtarnsdorf.at/  http://www.wallfahrtsmuseum.at/ http://stillenacht-oberndorf.com/stille_nacht_museum