Die Spanische Grippe fing an mit «bedauerlichen Einzelfällen»

Unter dem Titel «Eine (fast) vergessene Seuche» widmete sich der Historiker Andreas Tscherrig am Dienstag im Museum zu Allerheiligen der Spanischen Grippe. Diese forderte in Schaffhausen rund 240 Todesopfer, in der Schweiz 24 500.

Die Spanische Grippe war weitaus verlustreicher als der Erste Weltkrieg und kostete mindestens 50 Millionen Menschen das Leben. In der Schweiz erkrankte beinahe die Hälfte der Bevölkerung; nach offizieller Statistik starben 24 449 Personen. Gemäss dem Historischen Lexikon der Schweiz, bei dem Andreas Tscherrig hauptberuflich arbeitet, stellt die Spanische Grippe die «grösste demografische Katastrophe der Schweiz im 20. Jahrhundert» dar. Und das also soll eine vergessene Seuche sein?

Tatsächlich entstanden die ersten historischen Studien erst 60 Jahre nach dieser Pandemie. Tscherrig untersuchte die Ereignisse 2016 in Basel, dieses Jahr in Nidwalden. Für Schaffhausen hingegen liegt dank der Studie «Die böse Spanierin treibt ihr Unwesen» von Bernhard Ott bereits seit 1998 eine «lesenswerte Pionierarbeit» vor. Am Dienstag hielt Tscherrig dazu ein Referat beim Historischen Verein.

Vor allem junge Menschen starben

Schaffhausen hatte 9570 Erkrankungen (19 Prozent der Bevölkerung) und 239 Todesopfern (0,47 Prozent) zu beklagen. Der Referent wies aber, wie schon Bernhard Ott, darauf hin, dass sich die Zahlen des Krankenkassenverbandes, des Amtsblatts und des regierungsrätlichen Verwaltungsberichts erheblich unterscheiden. Todesanzeigen des 27-jährigen Ernst Beck-Kiene und der 19-jährigen Elise Wüst vom August 1918 zeigend, betonte Tscherrig, dass die Statistiken nicht von den Einzelschicksalen ablenken sollten. Das erste Todesopfer im Kanton Schaffhausen war übrigens am 26. Juli der Schleitheimer Fuhrmann Jakob Meier.

Andreas Tscherrig: «Trotz aller Statistiken darf man die tragischen Einzelschicksale nicht vergessen.»

Während heute besonders ältere Menschen und Kinder grippegefährdet sind, starben 1918 vor allem Männer und Frauen zwischen 20 und 40 Jahren. Die Gründe dafür sind letztlich unklar, obwohl der Militärdienst und, zumindest in Schaffhausen, die Fabrikarbeit eine wesentliche Rolle gespielt haben dürften. Der sprunghafte, kriegsbedingte Anstieg der Arbeitskräfte bei Georg Fischer trug jedenfalls dazu bei, dass man den Grossteil der Grippetoten in der Stadt beklagte, während dies gesamtschweizerisch eher in den Peripherien als in den städtischen Zentren der Fall war. Da man erst 1933 einen Influenzavirus isolieren und als Erreger der Krankheit eruieren konnte, kam der Prävention eine entscheidende Bedeutung zu. Neben der Aufklärung ging es wegen der Tröpfchenübertragung in erster Linie um Versammlungsverbote aller Art.

Schwieriges Versammlungsverbot

Tscherrig zeigte die dabei entstehenden Probleme auf. Nicht zuletzt war man sich des Krankheitsverlaufs in zwei beziehungsweise drei Wellen noch nicht bewusst. Die ersten Grippetoten nahm man deshalb in Schaffhausen als bedauerliche Einzelfälle hin, und das Abflachen der ersten Grippewelle im September führte zu einem verfrühten Aufatmen. Der negative Höhepunkt folgte erst Mitte Oktober, und Mitte Dezember kam es zu einer dritten Spitze. Die Durchsetzung des am 20. August erfolgten Versammlungsverbots war schwierig. Sollte man auch Gottesdienste verbieten, und wie war gegen überfüllte Trams vorzugehen? Im Zusammenhang mit dem Landesstreik im November wurde das Verbot vom Stadtrat vorübergehend sogar aufgehoben.

Das Kantonsspital war bald schon überfüllt, weshalb in aller Eile am 15. Oktober 1918 im Rheinschulhaus ein Notspital unter der Leitung von Bezirksarzt Bernhard Joos eröffnet wurde, für das man per Inserat Notpflegerinnen suchte. Die Pflege der Kranken forderte ebenfalls ihre Opfer – so erlag im Dezember die Assistenzärztin Lily Mühlberg der Grippe.

Inserat vom 13. August 1918 im «Schaffhauser Intelligenzblatt». BILD ARCHIV SN